Es gibt Menschen, die einem nichts sagen, wenn man sie kennen lernt. Ohne eigenes Licht, etwas schüchtern, unsicher. Unwesentliche Gesichtszüge, nicht unbedingt plump: einfach unwesentlich. Diese Grauigkeit, diese Insignifikanz überträgt sich in die Art und Weise, wie sie sich kleiden (sie legen Wert darauf, nicht aufzufallen: manche finden den Mut sogar, diese Insignifikanz in eine wahre Einstellung zu verwandeln, sie zu einem Lebensstil «emporzuheben»), in die Art und Weise, wie sie sich verhalten (keine auffälllige grosse Gesten, keine anspruchsvolle Frasen, bloss nicht laut werden: ihre Stimme hat eigentlich meistens nicht das Register, um laut zu werden.)
Manchmal begeht man den Fehler, einer dieser Personen näher zu kommen: weil die Umstände es so wollen. Man spricht mit ihnen über dies und das, Alltagsthemen wie die Arbeit, die Stadt, das Essen. Man fragt sie nach ihrer Meinung, lacht über ihre Witze, hilft ihnen mit der Sprache (wenn sie die Sprache des Landes, in dem sie sich aufhalten, nicht so gut beherrschen), gibt ihnen einen Tip, um ihnen das Leben einfacher zu machen.
Und dann…?
Erstens, die grauen Menschen sind und werden immer grau sein. Auch wenn sie etwas Vetrauen fassen, bleiben sie immer von demselben grauen Aura umhüllt. Das Grau ist niemals grauer oder weniger grau. Sogar wenn sie sich wohl fühlen, mutig genug, um ihre Grauigkeit und Grausein zu verteidigen und manifestieren, zur Schau zu stellen, sind sie genauso grau wie früher. Manchmal ist es fast schmerzvoll, zuzusehen, wie die Bemühungen, ein etwas sonnigeres grau hinzukriegen, in nichts resultieren.
Zweitens, wenn die grauen Menschen sich zu etwas gerufen fühlen, einen Sinn ihres Lebens gefunden zu haben glauben oder wenn sie schlichtweg glauben, in einer bestimmten Situation eine Erleuchtung bekommen zu haben, dann sind sie am gefährlichsten. Sie greifen an und urteilen: ihre Sternstunde ist gekommen. Sie werden sogar (und vor allem) laut, und das ist vielleicht, was einen wirklich zurückschrecken lässt: diese kleine, von Unsicherheit zitternde Stimme, die sich bemüht, an Volumen zu gewinnen. Aber Lautsein will ja auch geübt werden, setzt eine gewisse Kenntnis voraus. Wenn man laut spricht, beteiligt sich der ganze Körper daran: die Bauchmuskeln, das Diaphragma, die Halsmuskeln müssen entspannt sein, die Stimmbänder zu, und vor allem: projektieren. Wenn man nicht projektieren kann, sollte man lieber leise bleiben. Weil man auch wissen muss, wann laut werden sich wirklich lohnt. So bleibt eben der Versuch, etwas Licht und Energie zu bekommen, dem Jammern nahe, was alle anderen Beteiligten und Zuschauer nur ein Gefühl der Peinlichkeit spüren lässt.
Drittens, in solchen Fällen beissen diese unwesentlichen Figuren gerade diejenigen an, die früher aus (falsch verstandener vielleicht ?) Menschlichkeit ihnen ein Stückweit geholfen haben, an eben dieser Charakterstärke zu gewinnen, aus der heraus sie jetzt ihre Entrüstung zeigen. Die gleichen guten und naiven Seelen, die ihr Grausein mit ihnen geteilt haben, sogar das Risiko auf sich genommen haben, dass das Grau auf sie abfärbt.
In solchen Situationen laufen einem verschiedenen Begriffe und Konzepte durch den Kopf, in dem Versuch, zu verstehen und sich vielleicht eine Schutzwand zu bauen: Man weiss ja, wenn man es schafft, zu verstehen, dann tut es nicht mehr so weh (häufig angewandt, aber nicht immer sehr überzeugend, wenn die Diagnose «gebrochenes Herz» lautet). Naheliegend wäre der Begriff von der Banalität des Bösen, den Hannah Arendt (unter völlig anderen Umständen) prägte. Arendt hat Recht, egal unter welchen Umständen, ein solches Verhalten wirkt komisch, nicht nur banal. In der eigenen kleinen, engen, flachen, grauen Welt dieser Person ist das vielleicht geradezu eine Revolution. (Wir brauchen das Böse hier nicht zu definieren). In der kleinen, engen, grauen Welt soll man nach gut etablierten Höflichkeitsgrundsätzen leben, die bloss nicht zu viel Emotion verursachen, in der die Bequemlichkeit, die eigene Alltagsroutine, und das Prinzip von Nicht-zu-viel-nachdenken die Hauptfundamente sind, auf denen diese Welt liegt.
Sollen wir vielleicht die Sache abhacken, indem wir sagen: «…denn sie wissen nicht, was sie tun»? Die grosse, grossartige Lehre der Verzeihung, die Geste des Perdons, die uns ein Stückweit näher an die Divinität bringt? Und was tun, wenn «sie» es nicht wissen wollen?
Manchmal fällt es einem schwer, menschlich sein zu wollen. Was tun? Eine graue Seele, die einzig und allein grau sein kann und will – erziehen? bestrafen? gewähren lassen? Es ist schwierig. an das Göttliche zu denken, wenn man heute und jetzt lebt. Eine Binsenweisheit, ich weiss. Ach ja, es geht darum, sich im irdischen Leben dem Göttlichen zu nähern.
In solchen Fällen findet jeder das Mass und die Grenzen der eigenen Grösse. In der Entscheidung, Grossmut zu zeigen und das kleine Persönchen klein und grau sein zu lassen, in der Hoffnung, dass die grauen vielleicht doch etwas Farbe und Licht abbekommen . Die Geschichte hat uns gelehrt, dass dies nicht immer eine vernünftige Entscheidung ist. Ein Revolutionär sein, auch wenn es weh tut: Ist das die Alternative? Weise Aristoteles, als er über den Weg del medio justo sprach, der uns zum glücklichen, erfüllten, zum guten Leben führt. Mit Hochs und Tiefs, mit Ach und Krach scheint manchmal die Suche nach diesem Weg der goldenen Mitte die menschliche Existenz zu bestimmen.
